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Reise in die Vergangenheit

Wer hat Angst vor dem Ungeheuer vom Bernina?

Sie ist die einzige noch in Betrieb stehende selbstfahrende Dampfschneeschleuder der Welt: die Xrot d 9213 der Rhätischen Bahn. Eine Fahrt mit dem «Ungeheuer vom Bernina» ist wahrlich ein einschneiendes Erlebnis.

Historische Dampfschneeschleuder: Xrot d 9213 der Rhätischen Bahn
Gfürchig: Das riesige Schleuderrad des Ungeheuers fegt sogar Baumstämme und Steine vom Gleis.

Du lieber Himmel, was ist denn hier los? Überall an den Gleisen stehen Menschen mit Handys und Kameras, als würde Tennisstar Roger Federer zum Skifahren auf dem Berninapass erwartet. Noch ist weit und breit kein Star in Sicht. Bis plötzlich ein schriller Pfiff die erwartungsvolle Stille durchbricht und ein Rauch und Schnee speiendes Ungeheuer sich den Weg durch die Winterlandschaft bahnt. Seine Ankunft versetzt die Schaulustigen in helle Aufregung. Kameraverschlüsse klicken, Stative werden in die beste Schussposition gerückt, Handys in die Luft gehoben. Doch nicht Roger, der «Sportler des Jahres», ist der Grund für das Gewese der Paparazzi. Es ist die Xrot d 9213, die einzige noch in Betrieb stehende selbstfahrende Dampfschneeschleuder der Welt – und das Gesehenhabenmuss aller Eisenbahn-Enthusiasten.

Die Ge 4/4 182, auch Bernina-Krokodil genannt (vorne) und die Xrot d 9213 gemeinsam auf der Bernina-Passhöhe.

Highlight für Eisenbahn-Nostalgiker: Die Ge 4/4 182, auch Bernina-Krokodil genannt (vorne) und die Xrot d 9213 gemeinsam auf der Bernina-Passhöhe.

Technisches Meisterwerk

Es war im Winter des Jahres 1910, als das Ungetüm – 63,5 Tonnen Dienstgewicht bringt es auf die Waage – am Bahnhof von Pontresina GR einfuhr. Der stolze Hersteller hat sich mit grossen Lettern auf dem Rumpf der Maschine verewigt: die «Schweizerische Locomotiv- und Maschinenfabrik Winterthur». Ihre R 1051, wie das Fahrzeug damals noch hiess, gilt bis heute als «Wunderwerk der Technik», das speziell für die erschwerten Bedingungen am Berninapass konstruiert worden ist.

Historische Dampfschneeschleuder: Einheizen in der Feuerkammer

Heisser Job: Wenn die Flammen lodern, steigt die Temperatur in der Feuerkammer auf 1200 Grad Celsius. Für den Heizer heisst das: Ärmel hochkrempeln und schwitzen.

Historische Dampfschneeschleuder: Einheizen

Geduld und Gspüri sind beim Einheizen der Maschine gefragt. Geht es zu schnell, bekommt das Eisen Risse.

Meisterleistung in steilem Gelände

Mit seinen monströsen rotierenden Metallzähnen ist das Schleuderrad in der Lage, sich durch meterhohe Schneewände zu fräsen, Stämme und Steine von den Trassen zu fegen. Eine Meisterleistung, wenn man bedenkt, dass die Maschine ihre Arbeit auf der höchstgelegenen Alpentransversale Europas leisten und eine Steigung von siebzig Promille bewältigen muss.

Zudem war die Strecke – ursprünglich nur für den Sommerbetrieb konzipiert – schon bei ihrer Eröffnung 1908 strombetrieben. Eine Knacknuss für die Winterthurer Ingenieure. Denn im Winter, wenn es immer wieder zu Stromunterbrüchen kam, durfte die Schneeschleuder auf keinen Fall stecken bleiben. Und eine Dampflok, die ihr im Ernstfall als Schiebefahrzeug hätte dienen können, stand der elektrifizierten Berninabahn nicht zur Verfügung. Einzige Lösung: Die R 1051 musste mit einem eigenen Antrieb ausgestattet sein, was ein technisches Novum war. Und doch mit Bravour gelang.

Historische Dampfschneeschleuder: Injektor und Manometer

Das Reich des Heizers: Der lange, schmale Injektor (ganz links) zeigt den Wasserstand an, das Manometer (oben) den Druck. Dreizehn bar sind bei vollem Einsatz ideal.

Historische Dampfschneeschleuder: Dreitonnenrad

Noch ein Kännchen Öl und dann läuft alles wie geschmiert: Wenn das Dreitonnenrad rotiert, sollte man lieber das Weite suchen.

Ein grosser Fan

«Unglaublich in einer Zeit, als es noch keinen Computer gab», sagt Stephan Kenneweg-Kamp voller Hochachtung. Der 36-jährige Wuppertaler, Schreiner von Beruf und Fotograf aus Passion, zählt zu den grössten Fans der Rhätischen Bahn, kennt jede Zugkomposition und jeden Lokführer persönlich. Schon hundertzwanzigmal ist er mit der Berninabahn von St. Moritz über den Pass ins Puschlav gereist.

Und zweimal im Jahr, wenn die berühmte Dampfschneeschleuder auf Nostalgiefahrt geht, ist er wenn immer möglich vor Ort, um Eindrücke für seinen Vortrag zu sammeln, den er regelmässig in seiner Heimatstadt hält: über «Die Schneeräumung am Berninapass». Auch deshalb hat er bei den Mitarbeitern der Rhätischen Bahn einen Stein im Brett. Reist er rechtzeitig an, dürfen er und seine Kamera bei der Vorbereitung der Maschine dabei sein.

Historische Dampfschneeschleuder: Lokführer Marco Costa

Lokführer Marco Costa: «Es ist heiss, es ist laut, du bist voller Russ.» Aber missen will er die Höllenfahrt mit der Xrot nicht.

Bis heute unübertroffen

Es ist Samstag, der 18. Januar 2020, als er und vier Bahnprofis in der Lokhalle von Pontresina eintreffen. Die grosse alte Dame der Gleisschneeräumtechnik wartet dort auf ihren sonntäglichen Einsatz. Die Nostalgiefahrt von Pontresina zur Alp Grüm und retour ist seit vielen Wochen ausgebucht. Wie jedes Jahr. Einen Moment aber sieht es so aus, als müsse das Ereignis kurzfristig abgesagt werden. Der Kessel hat irgendwo ein Leck. Es tropft und rinnt. «Ich fürchte, die alte Dame muss dringend in Revision», sagt Lokführer Marco Costa und macht sich sogleich auf die Suche nach der Schwachstelle.

Der Erhalt der historischen Dampfschneeschleuder ist ihm wichtig. Weil sie mehr sei als ein Relikt der Geschichte. «Auch beim Schneeräumen ist sie unübertroffen.» Was sie 1984, als die Bahnstrecke zwischen Tavanasa und Disentis von einer Lawine verschüttet wurde, eindrücklich unter Beweis stellen konnte. Mit der gewaltigen Schwungkraft ihres riesigen Schleuderrads war es ihr gelungen, die schier undurchdringlichen, von Holz und Steinen durchsetzten Schneemassen zu beseitigen. Ein Kraftakt, bei dem ihr die deutlich jüngeren Schneefräsen klar unterlegen sind.

Text: Karin Oehmigen
Dieser Artikel erschien in der Schweizer LandLiebe #1 Winter 2021. Lesen Sie den ganzen Artikel im E-Paper

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Stichworte: Reportage