Wandern
Wohnliche Grotte im Wald
In einer Höhle oberhalb von Arcegno TI lebte vor über hundert Jahren der Künstler Gusto Gräser, einer der Gründer des Monte Verità. Die Wanderung vom Centovalli an den Lago Maggiore führt an der malerischen Grotte vorbei.

Die Station von Intragna darf man mit gutem Recht als einen der am schönsten gelegenen Bahnhöfe der Schweiz bezeichnen. Sie steht an erhöhter Lage auf einer Felsstufe und bietet einen grossartigen Ausblick auf das weite Tal der Melezza. An erstklassiger Aussichtslage steigen wir aus der Centovallibahn und starten unsere Wanderung, die uns an den Lago Maggiore führen wird.
Die Tour fängt gemütlich an, denn zum Auftakt gibt es schon mal einen Abstieg. Nachdem wir die Gleise überquert haben, wandern wir auf Steinplattenwegen und über Treppen hinunter zur Brücke, die sich über den Talfluss Melezza spannt. Dabei spazieren wir zunächst durch einen Hang mit Weinstöcken, der mit Trockensteinmauern terrassiert ist. Später kommen wir an Gemüsegärten vorbei, in denen der Salat und die Tomatenstauden schon deutlich grösser und kräftiger sind als bei uns in der Deutschschweiz. Das Dorf Golino durchqueren wir zügig, denn der Wanderweg verläuft hier direkt der Strasse entlang. Nach einer Viertelstunde können wir den Verkehr aber schon hinter uns lassen. Sogleich wird es wieder still und grün. Auf einem schönen alten, mit Steinen gepflästerten Weg steigen wir in einem Kastanienwald aufwärts. Nach einer Weile gelangen wir auf ein verkehrsfreies Strässchen, das sich weiter sanft in die Höhe zieht. Als die Steigung endet, marschieren wir ebenen Wegs noch etwa einen halben Kilometer weiter, bis wir aus dem Wald auf eine Wiese mit einzelnen Bäumen treten.

Das 1928 im Bauhausstil errichtete Hauptgebäude auf dem Monte Verità. Gusto Gräser gehörte zu den Gründern der Reformkolonie. Thomas Senf
Verborgenes Paradies
Hier in der Nähe muss der Ort liegen, der uns zur heutigen Tour veranlasst hat: Wir wollen zu einer Grotte namens «Tana dei Pagani». Auf Deutsch bedeutet das Heidenhöhle, doch meist spricht man von der Gräser-Höhle. Wir sehen uns um und entdecken auf der westlichen Seite des Strässchens einen etwas versteckten Fussweg, der zwischen den Bäumen sanft aufsteigt. Nach wenigen Schritten verengt sich der Pfad, wird steiler und windet sich den Hang hoch. Schliesslich taucht wie aus dem Nichts der schwarz gähnende Schlund eines Höhleneingangs vor uns auf.
Die Felsgrotte ist kein tiefes, enges Loch, sondern ein kleines Paradies. An der Rückwand des grossen, halbrunden Hohlraums fliesst aus einer Öffnung im Felsen ein Bächlein. Ein Mensch kann in der Höhle problemlos aufrecht stehen und findet in alle Richtungen so viel Bewegungsspielraum wie in einer kleinen Wohnung. Genau als solche hat sie Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein Mann genutzt, der eigentlich Gustav Arthur Gräser hiess, den aber alle Gusto nannten. Die Tana dei Pagani war sein zeitweiliger Wohnsitz, weshalb sie noch heute nach ihm heisst. Angeblich soll auch der Schriftsteller Hermann Hesse in jungen Jahren eine Weile dort verbracht haben.
Gusto Gräser war eine interessante, zugleich aber wohl auch ein wenig verschrobene Künstlernatur. Geboren wurde er 1879 in Kronstadt, das damals zu Habsburg-Österreich gehörte und heute in Rumänien liegt; er verstarb 1958 in München. Auf Wikipedia wird er als «Künstler und Aussteiger» bezeichnet. Der Lexikoneintrag gibt einen knappen Einblick in das spannungsreiche Leben einer schillernden Persönlichkeit. Höchst unterhaltsam ist die zugehörige, fast zehnmal umfangreichere Diskussionsseite. Unter Wikipedia-Autoren tobt dort seit Jahren ein erbitterter Streit über Rolle und Bedeutung Gräsers. Manche halten ihn für den Guru von Hermann Hesse und den Erfinder des modernen Ausdruckstanzes. Andere sind der Meinung, diese Einschätzungen seien masslos übertrieben.

Vom Gipfel des Balladrüm schweift der Blick weit über den Lago Maggiore mit den Isole di Brissago. Thomas Senf
Auf dem Weg zum Monte Verità
Immerhin ist gesichert, dass Gusto Gräser eine der treibenden Kräfte beim Aufbau der Reformkolonie am nahen Monte Verità war. Der geschichtsträchtige Hügel liegt ebenfalls an unserer heutigen Wanderroute. Auf dem gleichen Pfad, der uns zur Höhle hinaufführte, kehren wir zum Strässchen zurück, folgen diesem ein paar Dutzend Schritte bis zur Wanderwegkreuzung Pozz und schwenken dann auf einen schmalen Weg ein, der in Richtung Bolletina Lunga und Losone signalisiert ist.
Auf einer Natursteintreppe steigen wir zu einer winzigen Kapelle ab, die an einem idyllischen Waldseelein liegt. Eine Tafel am Wegrand informiert, dass wir uns hier im Naturschutzgebiet Barbescio Bolezina longa befinden. Ein Naturweg zieht sich dem See entlang und mündet danach in den Wald. Über die Wegverzweigung Ciossa und auf dem Sentiero Ortighee gelangen wir in den alten Dorfkern von Arcegno. Mit seinen romantischen Gassen und hübschen Steinhäusern zeigt er ein malerisches Ortsbild. Im neueren Quartier unterhalb der Kirche liegt das Grotto Mulin, wo wir uns mit einem Teller hausgemachter Gnocchi an Gorgonzolasauce stärken.

Historisches Kleinod: der alte Dorfkern von Arcegno. Thomas Senf
Was für eine Aussicht!
Nach der Mittagsrast setzen wir zu einem kleinen Gipfelsturm an. Bis zum höchsten Punkt unserer Tour fehlen zwar bloss noch etwa hundert Höhenmeter, doch der Aufstieg hat es in sich: Stotzig geht es im Wald aufwärts, bis wir den Felsrücken des Balladrüm erreichen. Aber was für eine Aussicht erwartet uns dort oben! Wir können den Lago Maggiore mit den Brissago-Inseln, die Dörfer des Gambarogno und auch die Gebirgszüge des Maggiatals überblicken.
Für den Abstieg halten wir uns an den in Richtung Monte Verità signalisierten Weg. Davon gibt es allerdings mehrere Varianten. Wir werfen deshalb einen Blick auf die Karte und entdecken einen Pfad, der sich in die westliche Flanke einer Anhöhe namens Castelli schmiegt. Er führt uns in eine riesige bewaldete Mulde, die fast ringsum von Steilhängen umgeben ist. In ihrer räumlichen Wirkung erinnert die natürliche Arena an eine Kathedrale. Am Ende des Walds erreichen wir den Monte Verità. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts entstand dort ein Naturheilsanatorium mit europaweiter Ausstrahlung. Gegründet wurde es von Pionieren eines alternativen Lebensstils um Henri Oedenkoven, Ida Hofmann und den besagten Gusto Gräser. Der Kreis propagierte Ideen, die damals völlig unkonventionell, ja revolutionär waren, so etwa die Gleichberechtigung von Mann und Frau, ein genossenschaftliches Zusammenleben und eine an der Natur orientierte Lebensweise mit vegetarischer Ernährung, Sonnenbädern sowie viel Bewegung an der frischen Luft. Aus dem einstigen Sanatorium ist im Lauf der Jahrzehnte ein Hotel und Kongresszentrum geworden. Wir spazieren durch den grossen, öffentlich zugänglichen Park, der zum Anwesen gehört.
In einem spannenden Kontrast zum bisherigen Verlauf unserer Tour steht ihr letzter Abschnitt. Auf Steintreppenwegen steigen wir nach Ascona ab, geniessen dabei den Anblick von Palmen und die Sicht zum Lago Maggiore. Nach der Stille der ausgedehnten Kastanien- und Buchenwälder tauchen wir schliesslich ins pralle Leben am Lido ein.
Der Zugang zur Gräser-Höhle ist nicht signalisiert. Die Abzweigung hat folgende Koordinaten: 2’700’205/1’114’170 beziehungsweise 46.17155 N/8.73617 E.
STECKBRIEF Gräser-Höhle, Arcegno TI
Start und Ziel Vom Bahnhof Intragna (338 m) über Golino (269 m) zur Gräser-Höhle (Tana dei Pagani, 422 m) und nach Arcegno (388 m), weiter über den Balladrüm (483 m) und den Monte Verità (332 m) zur Schifflände Ascona beziehungsweise zur Bushaltestelle «Ascona, Centro» (199 m) Distanz 9,1 km Gehzeit 3 h Höhenmeter 370 aufwärts, 510 abwärts Einkehr In Arcegno und in Ascona Tipp Im Park des Monte Verità gibt es einen wunderschön angelegten Teegarten, nebenan ein Teehaus mit grosser Auswahl
Text Andreas Staeger Fotos Thomas Senf
Diese Wanderung erschien in der Schweizer LandLiebe #3/2024.