Wandern
Milder Westen
Genf bringt Wanderer zum Staunen: Die zweitgrösste Stadt der Schweiz ist von einem idyllischen Hinterland umgeben, das zu leichten Frühlingstouren einlädt. Eine davon führt ins Vallon de l’Allondon ganz im Westen des Kantons.

Man kennt sich in Satigny. Bei der Bahnstation stehen zwei ältere Frauen am Strassenrand und schwatzen miteinander. Nach einer Weile fährt gemütlich der Kleinbus vor, der uns ins Nachbardorf Peissy bringen wird. Wir steigen ein, ebenso die beiden Damen, die ihre angeregte Unterhaltung fortsetzen. Und während sie sich über Kochrezepte und die kränkelnde Katze der Nachbarin austauschen, gondelt der Bus durch eine ausnehmend hübsche Landschaft.
Peissy ist der Ausgangspunkt unserer Wanderung. Wir geniessen es, nicht auf direktem Weg, sondern in einer grossen Schlaufe dorthin zu fahren. Weite Kornfelder ziehen draussen vorbei, zwischendurch sehen wir lange Reihen von Rebstöcken, dann wieder geht es durch schmucke Dörfchen, und über all dem wölbt sich ein grosser Himmel.

Einladende Terrasse: Das Restaurant im Naturschutzzentrum von Les Granges lädt zum Einkehren ein. Thomas Senf
Ländliche Ruhe nahe der Stadt
Wir sind ganz im äussersten Westen der Schweiz angekommen. Dabei sind wir bloss eine halbe Stunde vom Bahnhof Genève-Cornavin und damit vom Zentrum der zweitgrössten Schweizer Stadt entfernt. Was für ein Gegensatz zur hektischen Geschäftigkeit, die dort herrscht! Bei der Anreise mussten wir eine halbe Stunde warten, weil die Intercity-Züge aus der Deutschschweiz und die S-Bahnen ins Genfer Umland nicht aufeinander abgestimmt verkehren. Das reichte für eine Kaffeepause und obendrein für einen kurzen Augenschein auf dem Bahnhofplatz, wo sich Trolleybusse, Trams, Autos und Motorräder dicht aneinander vorbeischoben.
Als wir jetzt aus dem Bus steigen, fällt uns sogleich wohltuende ländliche Ruhe auf. Peissy ist ein winziges Dorf mit mehreren Weinkellern. Unser Wanderweg ist passend als «Balade viticole – Rive droite» ausgeschildert, als Weinspaziergang rechts der Rhone. Rasch führt er uns aus dem Dörfchen auf eine weite, einsame Ebene. In der Ferne sehen wir Jurahöhen, die bereits in Frankreich liegen.
Auf einem Kiessträsschen bummeln wir an Weinbergen vorbei. Frisches Laub treibt aus den Rebstöcken und verwandelt die Landschaft in einen riesigen Garten. Doch halt, kann man hier wirk-lich von Weinbergen sprechen? Im Unterschied zu anderen Schweizer Weinbaugebieten werden die Reben im Kanton Genf grösstenteils nicht an steilen Hängen gepflanzt, sondern auf flachem Boden. Nicht Weinberge, sondern Weingärten sind es, die wir da durchstreifen.
Bei der Wanderwegverzweigung «Monts de Russin» folgen wir der Route, die in Richtung Allondon und Dardagny signalisiert ist. Eine Weile wandern wir noch durch das Rebgebiet, dann geht es in den Wald, wo uns ein vielstimmiges Vogelkonzert erwartet. Allmählich beginnt sich der Weg sanft zu senken, zugleich mischt sich in das Zwitschern ein feines Rauschen, das immer deut- licher und mit der Zeit als Wasserplätschern erkennbar wird.
Schliesslich erreichen wir eine Strassenbrücke, die sich über ein Flüsschen spannt. Wir haben den Allondon erreicht, einen der kürzesten Flüsse der Schweiz. Seine Quelle liegt ein Dutzend Kilometer weiter nördlich in Frankreich. Von der Landesgrenze bis zur Mündung in die Rhone legt er nur gerade sechs Kilometer auf Schweizer Boden zurück. Dennoch gilt sein Tal, das Vallon de l’Allondon, als eine der schönsten Landschaften des Kantons Genf. Es ist Teil des Naturschutzgebiets «Rade et Rhône genevois», eines Wasser- und Zugvogelreservats von internationaler Bedeutung.
Über die Brücke gelangen wir hinüber nach Les Granges, wo am Rand eines Wäldchens ein grosses altes Haus steht. Die Naturschutzorganisation Pro Natura hat dort ein Informationszentrum eingerichtet, in dem Kindern und Erwachsenen auf spielerische Weise Einblick in die Naturschätze der Gegend vermittelt wird. Zum Naturschutzzentrum gehören auch ein Restaurant und ein Themenpfad, den wir nun beschreiten. Er verläuft durch den Auenwald fast direkt dem Flüsschen entlang.

Bei La Plaine fliesst die Rhone als Türkisband gemächlich durch die Landschaft. Dahinter liegt Frankreich. Thomas Senf
Malerischer Auenwald
Den kleinen Tafeln am Wegrand können wir interessante Dinge entnehmen. So erfahren wir etwa, dass der Allondon frei von jeglichen Schwellen und Stauwerken ist. So kann das Wasser zügig durch das Flussbett ziehen und erwärmt sich nur wenig, sodass die darin lebenden Fische selbst im Hochsommer nicht unter Hitzeauswirkungen zu leiden haben. Zwischen den Bäumen sehen wir, wie das Sonnenlicht glitzernde Muster auf das sanft dahinfliessende Wasser zaubert. In der Nähe klopft ein Specht mit lautem Hämmern sein Mittagessen aus einem Baumstamm.
Für einige Minuten müssen wir auf der Strasse wandern, doch nach der mittelalterlichen Kapelle von Malval führt uns eine Abzweigung (die dürftig signalisiert ist, sodass wir sie fast übersehen hätten) zurück in den Auenwald. Nach und nach lichten sich die Bäume, die Sicht weitet sich, wild und zugleich mild zeigt sich die Landschaft. Wir betreten eine riesige Trockenwiese, auf der Knabenkraut und andere Orchideen gedeihen. Der Talboden des Allondon ist nun deutlich breiter. Vielarmig umfliesst das Wasser kleine Inseln aus Kies. Auf manchen hat sich Pioniervegetation festgesetzt, auf anderen wachsen sogar kleine Bäume. Der Allondon verändert hier sein Gesicht regelmässig, denn während der Schneeschmelze im Frühling, aber auch nach Gewittern oder längeren Regenperioden suchen sich die Wasserarme immer wieder einen neuen Lauf, lagern da frisches Geschiebe ab, nehmen dort eine alte Kiesbank mit.
STECKBRIEF Vallon de l’Allondon, Satigny – Dardagny GE
Start und Ziel Von der Bushaltestelle Satigny, Peissy (475 m) via Les Granges (405 m) und Chapelle de Malval (397 m) zur Mündung des Roulave (386 m), dann via La Tuilière (483 m) und Dardagny (416 m) zum Bahnhof La Plaine (355 m) Distanz 11,8 km Gehzeit 3 h Höhenmeter 190 aufwärts, 310 abwärts Einkehr Im Centre Nature in Les Granges und in Dardagny Tipp Wird als Ausgangspunkt die Bushaltestelle Malval Centre Nature gewählt, dann verkürzt sich die Wanderung um 45 Minuten.
Text Andreas Staeger Bilder Thomas Senf
Diese Wanderung erschien in der Schweizer LandLiebe #3/2024