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Das ist der Gipfel!

Wer ganz hoch hinaus will, wandert auf das Oberrothorn bei Zermatt VS. Das auf 3414 Metern gelegene Ziel ist der höchste Punkt der Schweiz, der auf einem offiziellen Bergwanderweg erreicht werden kann. Das Panorama ist kolossal.

Oberrothorn
Rendez-vous mit den Eisriesen: Knapp unterhalb des Oberrothorngipfels schweift der Blick nach Osten zum Rimpfischhorn (4199 m) und zum Strahlhorn (4190 m).

Zur passenden Zeit am richtigen Ort: So könnte man den Zwischenfall beschreiben, den wir während unseres Aufstiegs zum Gipfel erleben. Der Bergweg, auf dem wir wandern, ist nicht übermässig steil und führt auch nicht durch exponiertes Gelände. Trotzdem hören wir es während unseres Aufstiegs plötzlich verdächtig rumpeln. Sind Steinböcke unterwegs? Oder haben sich gar ein paar Steine gelöst?

Das Geräusch kommt von etwas weiter oben. Wir blicken den Hang hoch und entdecken etwa fünfzig Meter oberhalb von uns zwei Personen in einer Kurve des Serpentinenwegs stehen. Entgeistert schauen sie ihrer grossen Trinkflasche nach, die zwischen den Steinen gemächlich, aber unaufhaltsam in die Tiefe kollert.

Oberrothorn

Ein Widderchen ist auf einer Enzianblüte gelandet: Unsere Tour bietet immer wieder Gelegenheit, Fauna und Flora zu bestaunen.

Ausreisser am Berg

Ich brauche nichts weiter zu tun, als kurz stehen zu bleiben, mich zu bücken – und schon kann ich das hüpfende Ding ohne Hektik und Anstrengung ergreifen. Mit dem Ausreisser in der Hand setze ich meinen Aufstieg fort, erreiche das Paar schon bald und übergebe ihm die Flasche. Jetzt sehe ich, dass die beiden nicht allein unterwegs sind: In einem Trag-gestell schläft ein Kleinkind. Wäre ich nicht zufälligerweise dort unten gestanden, um die Flasche aufzufangen, wäre diese unweigerlich weit fort in die Tiefe gestürzt. Der kleine Passagier hätte dann wohl oder übel auf seinen Schoppen verzichten müssen, und die Bergtour der Familie wäre zum tränenreichen Fiasko geworden. Ich war also wirklich gerade zur rechten Zeit am richtigen Ort.

Wir sind unterwegs auf das Oberrothorn, einen Berg hoch oberhalb von Zermatt. Dessen Spitze liegt auf 3414 Metern über Meer – das ist Schweizer Rekord. Nirgends in unserem Land kommt man auf einem offiziell signalisierten Bergwanderweg so weit nach oben. Zermatt selbst liegt auf etwas über 1600 Metern Höhe. Die Differenz zwischen dem Dorf und dem Gipfel beträgt somit satte 1800 Meter. So viel mochten wir uns heute jedoch nicht zumuten,
wir wollten es gemütlicher angehen und sind deshalb zuerst mit der unterirdischen Standseilbahn nach Sunnegga, dann mit der Luftseilbahn nach Blauherd und mit einer weiteren Luftseilbahn auf das Unterrothorn gefahren.

Oberrothorn

Da kann man nur noch staunen: Der Ausblick auf dem Oberrothorn gipfel reicht von Castor und Pollux (links) über das Breithorn bis zum Matterhorn.

Matterhorn wolkenlos

Auf dem letzten Abschnitt unserer Bergfahrt haben wir freie Sicht auf das Matterhorn. Nicht selten umgibt eine Wolkenfahne den markant geschwungenen, 4478 Meter hohen Felszahn, doch heute zeigt er sich uns in herbstlicher Klarheit – wir haben Wetterglück!

Das Unterrothorn ist quasi der kleinere Bruder des rekordträchtigen Oberrothorns – es erreicht immerhin eine Höhe von 3103 Metern. Als wir die Bergstation verlassen, öffnet sich vor uns ein grandioses Panorama, das mehrere weitere Viertausender umfasst. Wir können unter anderem das Rimpfischhorn
(4199 m), das Breithorn (4160 m), die Dent Blanche (4357 m) und das Weisshorn (4505 m) erkennen. Neben diesen wuchtig in Erscheinung tretenden Gipfeln nimmt sich das Monte-Rosa-Massiv mittendrin fast diskret aus, obwohl dessen höchste Erhebung – die 4634 Meter hohe Dufourspitze – zugleich der höchste Punkt der Schweiz ist.

Die beiden benachbarten Rothörner weisen einen ziemlich unterschiedlichen Charakter auf. Das Unterrothorn ist ein fürs Skifahren optimierter Berg mit Restaurant, planierten Abfahrtshängen und diversen Installationen für die technische Beschneiung. Wir setzen uns in Gang, lassen die Bergstation zügig hinter uns und marschieren unserem Gipfelziel entgegen. Das Oberrothorn zeigt sich uns als nahezu unberührter Berg. Einzig in seinem Südwesthang -stehen ein paar Masten für die künstliche Lawinenauslösung. Ansonsten ist die ebenmässig geformte Kuppe völlig unverbaut.

Oberrothorn

Majestätischer Anblick: Nicht von ungefähr gilt das Matterhorn als der König der Berge. Hier zeigt es sich in schönstem Licht über der spiegelglatten Oberfläche des Stellisees.

Dünne Luft dämpft den Gang

Eigentlich fehlen uns bloss noch dreihundert Höhenmeter bis dort hinauf – ein Klacks, könnte man denken. Doch die dünne Höhenluft und der Umstand, dass wir ohne Akklimatisation direkt aus dem Unterland angereist sind, machen sich schon bald bemerkbar. Unweigerlich drosseln wir das Tempo und schlagen einen gemächlicheren Gang an. Unser Aufstieg beginnt kurioserweise mit einem Abstieg. Ein Strässchen zieht sich vom Unterrothorn gemächlich, aber deutlich abwärts zum Furggji. Auf dem passähnlichen Sattel zwischen den beiden Rothörnern können wir die Kiespiste hinter uns lassen.

Hundertzwanzig Höhenmeter haben wir verloren, die wir nun wieder wettmachen müssen. Wir schwenken auf einen schönen, schmalen Bergweg ein, der sich ohne übermässige Steigung in den Hang legt. Unsere Beine und Lungen haben sich mittlerweile an die Höhe gewöhnt. Schritt für Schritt kommen wir voran. Zwischendurch bleiben wir stehen, um die Parade der umliegenden Gipfel und die Gletscher, die sich in ihre Flanken legen, zu bestaunen. Lockeres Geröll -bedeckt die Hänge, nur noch karge Grasbüschel stossen aus dem Boden hervor.

Eine Viertelstunde, nachdem ich dem wandernden Paar und seinem Kind mit meinem Flaschenfang wohl den Tag gerettet habe, durchqueren wir eine sonnige Halde, an deren oberem Ende zwei stattliche Steinböcke mitten auf dem Bergweg ruhen. Ob sie wohl wie wir die Morgensonne und die Aussicht geniessen? Wir umgehen die stattlichen Gesellen mit respektvollem Abstand und nehmen die letzten paar Dutzend Höhenmeter unseres Aufstiegs in Angriff. Dann sind wir oben.

«Oberrothorn 3414 m» bestätigt die Wegweisertafel, die an einem Metallpfosten knapp unterhalb des Gipfels angebracht ist. Die Rundsicht, die sich uns bietet, umfasst nun den ganzen Himmelskreis. Die «Peakfinder»-App verrät, dass wir freie Sicht zu rund zwei Dutzend Viertausendern haben. Das Beste daran: Wir brauchen zu Matterhorn, Dufourspitze & Co. nicht hinaufzublicken, sondern stehen ihnen gewissermassen auf Augenhöhe gegenüber. Auch wenn das geometrisch vermutlich nicht ganz stimmt, fühlt es sich zumindest so an.

Oberrothorn

Wie ein abstraktes Gemälde: der im Monte-Rosa-Massiv liegende Findelgletscher mit seinen Spalten und Furchen. Die Natur ist eben auch eine Künstlerin.

Ein See zum Abschluss

Für das Mittelland ist ein milder Herbsttag angesagt, doch hier oben bläst uns ein eisiger Wind um die Ohren. Wir naschen etwas Trockenobst aus dem Rucksack, lassen nochmals unsere Blicke in die Runde schweifen und machen uns dann an den Rückweg. Die Steinböcke haben unterdessen das Feld geräumt. Von den beiden ist keine Spur mehr auszumachen. Unser Abstieg verläuft zunächst auf gleicher Strecke wie die Aufstiegsroute. Bei Furggji schwenken wir jedoch südwärts ab. Es geht nun anhaltend, aber nicht übermässig steil durch das Gebiet Roter Bodmen zur -Fluealp hinunter. Im Berghaus stärken wir uns mit einer kräftigen Kartoffelsuppe, um danach zum letzten Abschnitt unserer heutigen Wanderung anzusetzen. Er unterscheidet sich deutlich vom bisherigen Verlauf der Tour. Weder auf- noch abwärts geht es jetzt, sondern wie auf einer Höhenwanderung ebenen Wegs voran.

Wir sind mittlerweile fast tausend Höhenmeter tiefer als der Oberrothorngipfel. Dementsprechend ist auch die -Vegetation viel üppiger. Wir spazieren über Alpweiden in herbstlich braunroten Tönen. Schliesslich erreichen wir ein zauberhaftes Idyll: Auf einer kleinen Hochebene am Fuss des Unterrothorns breitet sich ein kristallklarer Bergsee aus, auf dessen Oberfläche sich der tiefblaue Himmel und das Matterhorn spiegeln. Der Stellisee, so heisst das Kleinod, ist ein wunderschöner Schlusspunkt unseres Abstechers in höchste Wanderweg-gefilde. In wenigen Gehminuten erreichen wir die Station «Blauherd» und die Seilbahn zurück nach Zermatt.

Steckbrief Oberrothorn, Zermatt VS

Start und Ziel Von Zermatt per Seilbahn auf das Unterrothorn (3103 m), via Furggji (2983 m) auf das Oberrothorn (3414 m), Abstieg zurück nach Furggji und dann via -Stellisee (2538 m) zur Seilbahnstation «Blauherd» (2574 m) Distanz 8,9 km Gehzeit 3 h 30 min Höhenmeter 500 aufwärts, 1020 abwärts Einkehr Auf dem Unterrothorn oder auf Blauherd Tipp Die Tour lässt sich um eine Stunde verkürzen, indem vom Oberrothorn zum Unterrothorn zurückgekehrt wird.

Text Andreas Staeger Fotos Thomas Senf

Diese Wanderung erschien in der Schweizer LandLiebe #6/2024.