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Umarmt von der Wintersonne

Der Winter bringt das Albulatal zum Leuchten. Am Tag flutet die Sonne die Winterwanderwege rund um Bergün GR, am Abend lässt der Lichterweg im Nachbardorf Filisur den Schnee funkeln.

Bergün
Während die Nordflanke des Piz Rugnux (2890 m) noch im Schatten liegt, leuchtet der Schnee auf den Alpweiden zwischen Stuls und Latsch bereits im Sonnenschein.

Die Zeit der langen, dunklen Winternächte hat begonnen. Seit jeher neigen die Menschen dazu, der Finsternis und der Kälte zu trotzen, die nun um sich greifen. Im Bündner Bergdorf Filisur praktiziert man dies auf unkonventionelle Weise: In der Adventszeit richten Einwohnerinnen und Einwohner den Lichterweg ein. Der beleuchtete Spazierweg beginnt in der Nähe des Bahnhofs und führt über Valler ins Gebiet Valnava, das ausserhalb des Dorfs liegt. Die Strecke ist den Fussgängern vorbehalten. Sie wird von beleuchteten Holzhäuschen mit kleinen Figuren in poetischen Inszenierungen gesäumt.

Heute Abend wollen wir den Lichterweg besichtigen. Doch bevor wir uns auf diese Abendtour begeben, möchten wir die Sonne geniessen. Zu diesem Zweck fahren wir mit der Bahn nach Bergün, dem Nachbardorf von Filisur, um dort eine Winterwanderung zu unternehmen. Bei der Planung haben wir den geografischen Eigenheiten der Gegend Rechnung getragen. In Bergün scheint zwar auch im Winter oft die Sonne, doch die umliegenden hohen Berge halten sie von manchen Ecken mitunter ziemlich lange fern. So taucht der Piz Rugnux das Dorfzentrum an den kürzeren Tagen des Jahres bereits um die Mittagszeit in den Schatten. Deshalb haben wir uns für eine Tour am sonnigen Südhang über dem Dorf entschieden. Dort ist ein Winterwanderweg angelegt, der zu den beiden Nachbardörfern Stuls und Latsch führt. 

Bergün

Mit ihren milden Strahlen streichelt die Morgensonne die frische weisse Pracht, die über Nacht in Bergün gefallen ist. 

Die Bäume tragen Weiss

Letzte Nacht hat es noch geschneit, doch schon am frühen Morgen hat sich die Wolkendecke zu lichten begonnen. Mittlerweile ist der Himmel fast makellos blau. Der Anblick der verschneiten Winterwelt ist märchenhaft. Die Lärchen haben noch nicht alle Nadeln abgeworfen. Den Schnee, der sich auf ihre Äste gelegt hat, tragen sie wie ein zartes weisses Kleid. Dichter, aber ebenfalls weich geformt ist die Schneedecke, die an den kräftigen Ästen der Tannen hängt.

Am Bahnmuseum Albula vorüber gelangen wir zum nahen Bahnübergang. Auf der anderen Seite der Gleise schwenken wir auf ein Strässchen ein, das sich dem Hang entlang sanft in die Höhe zieht. Auf den ersten paar hundert Metern ist das Trassee geräumt, denn das Teilstück dient als Zufahrt für eine kleine Gruppe von Häusern, doch danach endet die gepflügte Strecke. Wir stapfen durch den Schnee gemächlich aufwärts. Schon bald gelangen wir in lichten Bergwald. Die Sonne dringt an vielen Stellen ungehindert zwischen den Zweigen und Ästen der Bäume auf den Boden; manche Stellen liegen hingegen im Schatten. An einem Felsband am Strassenrand hat sich eine ganze Kaskade von Eiszapfen gebildet. Die Sonne erreicht dieses Gebiet erst spät am Vormittag und verschwindet schon bald wieder hinter dem Piz Ela, darum hält sich die weisse Pracht gut. 

Wandern

Einfach zauberhaft: die liebevoll gestaltete Installation auf dem Lichterweg Filisur.

«Freut euch!» – Ja, das tun wir

Eine junge Frau kommt uns entgegen und begrüsst uns: «Allegra». Das rätoromanische Grusswort bedeutet übersetzt «Freut euch!». Wer wollte einer solch freundlichen Aufforderung angesichts des prachtvollen Wintertags nicht nachkommen? Auch die Frau freut sich sichtlich: Sie zückt ihr Handy, um die märchenhaft schönen Eisgebilde zu fotografieren, dann erklärt sie uns, sie wohne oben in Stuls. Und obwohl sie jeden Tag hier vorbeimarschiere, könne sie sich kaum sattsehen an diesem Anblick.

Nach einer Rechtskurve führt uns der Winterwanderweg durch einen schattigen Hang. Unberührt von der Sonne liegen hier die Schneekristalle noch genauso luftig auf dem Boden, wie sie letzte Nacht vom Himmel heruntergeschwebt sind. Im Gebiet Buorchas mündet unsere Wanderroute in ein Strässchen. Wir könnten hier rechts abzweigen und direkt nach Latsch wandern. Stattdessen schwenken wir nach links, um einen Abstecher nach Stuls einzuschalten. Die Strasse, auf der wir nun wandern, ist zwar gepflügt, aber zum Glück nicht schwarz geräumt, sondern schneebedeckt – und ausgesprochen verkehrsarm: Während der ganzen Zeit, in der wir auf ihr unterwegs sind, passieren uns nur gerade zwei Autos.

Nach einer Viertelstunde erreichen wir Stuls. Das verträumte Dörfchen birgt ein kostbares Kulturgut: Die kleine reformierte Kirche gilt als herausragendes Zeugnis mittelalterlicher Sakralbaukunst. Seitenwände und Decke sind gewölbeartig miteinander verbunden und mit einem frühgotischen Freskenzyklus vollflächig bemalt. Wir bestaunen die farbenfrohen biblischen Szenen.

Als wir wieder auf die Strasse treten, merken wir, dass wir allmählich Durst haben. Doch wir müssen feststellen, dass es im Dorf kein Restaurant gibt. Dafür entdecken wir zwei Hofläden mit interessanten Leckereien: Da gibt es Alpkäse, Geissen-Salsiz und Tortilla-Chips aus regionaler Produktion, auch kalte und heisse Getränke. Wir finden, eine solche Initiative gehöre honoriert, schenken uns aus einem Thermoskrug kochend heisses Wasser in die bereitstehenden Tassen und bereiten uns einen feinen Kräutertee zu. Den Batzen dafür legen wir ins Kässeli, das die Bauernleute vertrauensvoll bereitgestellt haben.

Für den Weg nach Latsch benützen wir das gleiche Strässchen, das uns hergeführt hat, und kehren so zurück zur Verzweigung bei Buorchas. Dort behalten wir die eingeschlagene Richtung bei. Wir marschieren nun direkt der Wintersonne entgegen, die ihre wärmenden Strahlen durch die kalte Luft schickt. Sanft aufsteigend schlängelt sich der Winterwanderweg über das verschneite Weideland. Der Parkplatz God eingangs von Latsch ist der höchste Punkt unserer Tour. Hier schalten wir eine Extrarunde auf dem Latscher Panoramaweg ein. Er führt uns zuerst durch schattigen, tief verschneiten Tannenwald, danach zu einem Sonnenhang, der einen sehr schönen Ausblick zum Talboden der Albula und nach Bergün gewährt.

Nach der kleinen, aber lohnenden Schlaufe erreichen wir wieder das Siedlungsgebiet. Latsch ist ein richtiges Bilderbuchdörfchen. Es besteht nur aus wenigen Bauernhäusern, die sich dicht aneinanderdrängen. Mittendrin steht eine winzige Kirche. Wir werfen einen Blick ins Innere und atmen den Wohlgeruch ein, den die aus Arvenholz gefertigten Kirchenbänke verströmen. Im Unterschied zur üppigen Farbenpracht der Stulser Kirchenfresken ist das Innere hier betont schlicht gehalten. Die alten, gut erhaltenen Gebäude des Dorfs formen ein malerisches Ortsbild. Nicht von ungefähr wurde Latsch mehrmals als Kulisse von «Heidi»-Verfilmungen ausgewählt. An jeder Ecke gibt es etwas zu entdecken und zu bestaunen. Viele der behäbigen Steinhäuser sind im Engadiner Baustil gehalten und weisen reich verzierte Fensterbrüstungen auf. Manche Hauswände sind mit Fresko-Inschriften versehen. Dazwischen fallen uns breite Hauseingänge mit prachtvollen, massiven Holztüren auf.

Am unteren Dorfende erkennen wir, dass Latsch wie auf einem Balkon hoch über dem Tal liegt. Wir geniessen nochmals grossartige Tiefblicke nach Bergün. Der Weg dorthin beginnt denn auch recht steil. Später geht es in den Wald, wo der Weg in etlichen Kehren Gefälle abbaut. Schliesslich erreichen wir wieder den Ausgangspunkt unserer Rundwanderung. 

Bergün

Hier werden nur die schönen Stunden gezählt: An einer Hauswand in Latsch prangt eine alte Sonnenuhr. 

Stärkung im «Büfet»

Damit ist unser Wintertag im Albulatal freilich noch nicht zu Ende. Im «Büfet» des Bahnmuseums wärmen wir uns mit einer kräftigen Gerstensuppe auf und geniessen einen mit Bündnerfleisch und Alpkäse garnierten Salatteller. Danach fahren wir mit dem Zug nach Filisur, warten dort den Einbruch der Dämmerung ab und bummeln dann über den Lichterweg. Ein Lichterbogen signalisiert uns den Einstieg zur knapp einen Kilometer langen Strecke. Verschiedene originelle Objekte wie etwa alte Milchkannen, die zu kleinen Leuchtkörpern umgestaltet sind, säumen den gepfadeten Weg und tauchen ihn in heimeliges Licht. Unser Spaziergang durch die Winternacht ist ein zauberhaftes Kontrastprogramm zur Wanderung, die wir tagsüber an der Wintersonne unternommen haben, und setzt einen stimmungsvollen Schlusspunkt hinter unseren Ausflug ins Albulatal.

STECKBRIEF Winterwanderung Bergün GR

Start und Ziel Vom Bahnhof Bergün (1380 m) via Buorchas (1536 m) nach Stuls (1549 m), via Latsch (1588 m) zurück nach Bergün Distanz 9,3 km Gehzeit 3 h 10 min Höhenmeter 330 auf- und abwärts Einkehr In Latsch oder in Bergün Tipp Für den Abstieg von Latsch nach Bergün sind Wanderstöcke empfehlenswert.

Text Andreas Staeger  Fotos Stefan Walter und Yannick Andrea 

Diese Wanderung erschien in der Schweizer LandLiebe #1/2024.